16.03.09

Im Kindergarten um die ganze Welt

von Jasmin Bühler und Gönül Temür-Öztürk

„Wir waren jetzt schon da, da, da und da“, sagt die sechsjährige Rebekka und fährt mit ihrem kleinen Finger über die große, bunte Weltkarte an der Wand. Mit „da, da, da und da“ meint die aufgeweckte Vorschülerin die Länder „Indien, Ägypten, Finnland und Griechenland“, die auf der Karte mit großen gelben Sternen markiert sind. Auf die Frage, wo die Reise heute hingehe, reißt Rebekka ihre großen blauen Augen auf und erklärt, empört über so viel Unwissenheit: „Mann, das weiß ich jetzt doch noch nicht! Das wird uns erst nachher beim Morgenkreis gesagt!“

Der "fliegende Kindergarten". Foto: Irene Lenk

Im integrativen Kindergarten Feuerstein bei Ebermannstadt steht für die Kinder derzeit jeden Tag ein anderes Land im Mittelpunkt. „Unser Ziel ist es, den Kindern etwas über andere Kulturen, Bräuche und Gewohnheiten beizubringen“, erläutert Christine Förtschlanger, die seit zehn Jahren den Kindergarten in privater Trägerschaft leitet. „Wir wollen ihnen schon so früh wie möglich etwas über Vielfalt und Toleranz mit auf den Weg geben“, sagt sie.

Da die 52-Jährige selbst in Oberehrenbach bei Gräfenberg wohnt und durch die fortwährenden rechtsextremen Aufmärsche immer wieder vor Augen geführt bekommt, wie Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz aussehen können, ist es ihr ein besonderes Anliegen „ihre“ Kinder beizeiten für die Wichtigkeit von Integration zu sensibilisieren. Der Kindergarten Feuerstein ist dabei im wahrsten Sinne des Wortes selbst integrativ: Fünf behinderte und 13 nicht behinderte Kinder spielen, toben und lernen hier gemeinsam in einer einzigen großen Gruppe. „Die Kinder erleben hier ganz selbstverständlich, dass es normal ist, verschieden zu sein“, sagt Förtschlanger, „und wenn hier einer einmal keinen Purzelbaum kann, wird er nicht gleich ausgelacht.“ Grundschullehrer würden ihr regelmäßig bestätigen, dass die Kinder, die den integrativen Kindergarten besucht haben, ein ausgezeichnetes Sozialverhalten aufweisen, fügt sie hinzu.

Für die Erziehung zur Toleranz sei von Vorteil, dass Kindergartenkinder schon von Natur aus äußerst offen und aufnahmebereit sind. „Kinder sind in diesem Alter noch nicht so voreingenommen. Sie haben keine Vorurteile und sind für Neues viel zugänglicher als zu einem späteren Zeitpunkt“, äußert Förtschlanger ihre Ansicht. Deshalb sei es ratsam, Kindern schon im Kindergarten die kulturelle Reichhaltigkeit der Welt zu zeigen. Und weil es ihr am Herzen liegt, den Kindern so viel wie möglich über die Kultur des entsprechenden Reiselandes zu vermitteln, kann es schon einmal vorkommen, dass das gemeinsame Frühstück kurzerhand durch ein gemeinsames Pizzaessen ersetzt wird. „Heute ist nämlich Italien dran“, flüstert Förtschlanger, „aber das erfahren die Kinder erst im Morgenkreis.“

Jedes Land, das die Kindergartengruppe besucht hat, wird auf der Weltkarte mit einem gelben Stern versehen, damit die Kinder die Reise mitverfolgen können. Doch sind die täglich wechselnden Länder nur ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen wird. Denn die kulturelle Erkundungstour wird im Laufe des Kindergartenjahres noch ausführlicher und intensiver besprochen werden. „Zur Einführung reisen wir jetzt erst einmal jeden Tag in ein anderes Land, aber danach vertiefen wir das Thema und widmen uns den verschiedenen Ländern und Kulturen gleich mehrere Tage und Wochen“, erklärt Förtschlanger. Dabei werde dann auch ganz systematisch vorgegangen und Kontinent für Kontinent erforscht.

Die Weltreise ist allerdings nur eines von mehreren Themen, mit dem sich die Kinder beschäftigen. An allerlei anderen Ideen mangelt es dem Team, das aus insgesamt drei Mitarbeiterinnen und einem Mitarbeiter besteht, nämlich nicht. Im Büro stehen gleich mehrere Kisten voll mit Materialen zu verschiedenen Themen, die sich alle bündeln lassen unter dem Thema des derzeitigen Kindergartenjahres: „Unser Kindergarten – eine Brücke vom Ich und Du: Wir machen uns gemeinsam auf den Weg und üben demokratische Verhaltensweisen und Fähigkeiten ein.“

Auf großen Karteikarten, die die vorhandene Sammlung in einzelne Kategorien einteilen, steht in gut leserlicher Schrift jeweils die Themenzugehörigkeit geschrieben: „Ich und Du/Umgang mit Gefühlen, Familie, etc.“, „Umgang mit dem Anderssein/Freundschaft“ oder „kulturelle Aufgeschlossenheit“. Diese Themenkomplexe lassen Christine Förtschlanger und ihr Team immer wieder in den täglichen Kindergartenablauf einfließen, egal ob beim Morgenkreis, beim Turnen und Spielen oder bei der Musiktherapie. 

Die Materialsammlung – intern „Materialkoffer“ genannt – wurde von Kindergartenleiterin Förtschlanger vor Beginn des Kindergartenjahres im vergangenen September angelegt. Von Büchern über Spiele bis hin zu CDs hat Förtschlanger alles zusammengetragen, was sie zur „Demokratieerziehung“ finden konnte – und herausgekommen ist eine vielfältige und abwechslungsreiche Sammlung, die seitdem ständig erweitert und aktualisiert wird. „Ich wollte das Thema nicht nur theoretisch angehen, sondern es den Kindern auf praktische Weise vermitteln“, erläutert Förtschlanger, „sie sollen es quasi mit allen Sinnen erfahren.“ Mit ihrer Idee verfolgt die Erzieherin auch ein weiteres Ziel: „Ich würde den Materialkoffer gern professionalisieren und dann auch an andere Kindergärten verleihen, damit diese ihn auch verwenden können.“

Inzwischen laufen in dem großen Gruppenraum bereits die Vorbereitungen für den morgendlichen Stuhlkreis. Kindergartenleiterin Förtschlanger kommt hinzu und gibt der fünfjährigen Lena einen geheimen Auftrag: „Hol’ mal bitte das, was du vorhin hast verstecken sollen.“ Lena nickt, verschwindet und taucht kurz darauf mit einem verhüllten Bündel wieder auf, das sie ihrer Erzieherin übergibt. Nachdem alle einen Platz in dem Stuhlkreis gefunden haben, wird begleitet von einer CD zuerst ein Kinderlied gesungen, das verschiedene Begrüßungsformeln aus anderen Ländern aufgreift.

Kaum sind die letzten Töne verklungen, enthüllt Förtschlanger das geheimnisvolle Paket und zum Vorschein kommt ein Stiefel: „Na ihr Lieben, wo geht unsere Reise heute hin?“

 

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